ORDENSÄHNLICHE LEBENSFORMEN

       Die Anforderungen an die angestellten Mitarbeiterinnen im St. Marienstift waren hoch: Sie mussten gesund sein, sich zu schwerer körperlicher Arbeit eignen und die Fähigkeiten besitzen, die verschiedenen Arbeitsbereiche des Stiftes zu leiten: Plätt- und Nähzimmer, Waschhaus und Garten, Küche und Backhaus. Darüber hinaus sollten sie pädagogisches Geschick im Umgang mit den Dienstboten zeigen und die Etikette im Verkehr mit den Herrschaften beachten. Sie hatten sich auch im Blickfeld der Öffentlichkeit zu bewähren, die dem Stift teilweise kritisch gegenüberstand. Dabei war die Bezahlung gering. Weil es unter diesen Bedingungen schwer war, geeignete Kräfte zu finden, wechselten die Mitarbeiterinnen häufig.

       Schon beim ersten Spendenaufruf für den geplanten Verein hatte Schneider angekündigt, die Leitung der Dienstbotenarbeit nach Möglichkeit Ordensschwestern zu übertragen. Vielleicht hatte er damals schon an die Gründung einer neuen Kongregation gedacht. Der Fürstbischof gab jedoch mehrfach zu erkennen, dass er ein solches Vorhaben nicht für erforderlich hielt.

       Zu dieser Zeit waren zwei neue Frauengemeinschaften im Fürstbistum Breslau entstanden: die Grauen Schwestern von der heiligen Elisabeth, die 1842 in Neisse mit der ambulanten Krankenpflege begonnen hatten, und die von Robert Spiske in Breslau gegründeten Hedwigsschwestern, die sich seit 1848 um elternlose Kinder kümmerten. Beide erkannte der Fürstbischof 1859 an, und sie wurden zu Beginn der Siebzigerjahre zu Kongregationen päpstlichen Rechts; beide erhielten auch die Korporationsrechte. Die Elisabethschwestern entwickelten sich rasch zur größten Kongregation und hatten 1870 bereits 432 Schwestern in 74 Niederlassungen; die Hedwigsschwestern gründeten bis 1873 acht Niederlassungen.

       Die Kongregation der Marienschwestern von der Unbefleckten Empfängnis, die sich aus dem St. Marienverein entwickelte, war die jüngste Gründung, und Schneider ging den Weg zu einer Ordensgemeinschaft in kleinen Schritten. Zunächst bemühte er sich, die bezahlten Mitarbeiterinnen durch Frauen zu ersetzen, die sich aus religiösen Motiven, auf Dauer und ohne Lohn den Dienstboten widmen und am Aufbau einer Ordensgemeinschaft mitwirken wollten. In Rosalie Franke, die seit 1857 als Leiterin des Hauses angestellt war, fand er die nötigen Voraussetzungen. Sie hatte eine Freundin, Julie Gromatka, die ebenso gesinnt war. Mit diesen beiden Frauen traf Schneider 1858 bald nach dem Einzug des Vereins in das St. Marienstift eine mündliche Vereinbarung, nach der sie unentgeltlich und möglichst auf Lebenszeit für das Stift arbeiten sollten. Ihr Vermögen stellten sie für die Dauer ihrer Mitgliedschaft dem Stift zur Verfügung. Sie wurden zu "Laienschwestern" und legten eine ordensähnliche Tracht an: ein blaues Kleid, eine weiße Haube mit Tüllrüschen sowie zum Ausgehen einen schwarzseidenen Hut und ein schwarzes Tuch. Eine dritte Frau, Johanna Schimpke, arbeitete als "Kandidatin" mit ihnen.

       Alle drei Frauen verließen das St. Marienstift jedoch zwei Jahre später wieder und suchten zum Teil Anschluss an andere, bereits anerkannte Kongregationen. Ihr eingebrachtes Vermögen erhielten sie zurück. An die Stelle der ausgeschiedenen Laienschwestern traten 1860 erneut weltliche Mitarbeiterinnen, die keine besondere Tracht trugen, aber "Schwestern" genannt wurden. Es gab wiederum mehrfache Wechsel.


Mutter M. Mathilde Scholz 1. Generaloberin 1864-1893

       1861 traten drei Schwestern ein, auf die Schneider große Hoffnungen setzte: Agnes Berger, die 1862 die Leitung übernahm, sowie Mathilde Scholz und Hedwig Mandel, die später Generaloberinnen der Kongregation wurden. Mit ihnen arbeitete Rosina Modler im Stift. Diesen vier Frauen erteilte Schneider Unterricht über die Grundlagen des Ordenslebens und traf mit ihnen am 1. März 1863 eine schriftliche Vereinbarung. Sie wurden als "Schwester" in das St. Marienstift aufgenommen, übergaben dem Stift ihr gesamtes gegenwärtiges und künftiges Eigentum und erhielten dafür Unterhalt bis zu ihrem Lebensende. Es war eine private Übereinkunft, die keine kirchenrechtliche Verpflichtung beinhaltete und keiner bischöflichen Zustimmung bedurfte.


Mutter M. Hedwig Mandel 2. Generaloberin 1894-1906

       Der Vorstand der Marienstiftung beschloss hohe Anforderungen an die Interessentinnen: Sie wurden erst nach einem Probejahr als Schwestern aufgenommen und verpflichteten sich dabei, für den Fall ihres dauernden Verbleibens dem St. Marienstift ihr gesamtes bisheriges und zu erwartendes Eigentum zu schenken. Sie mussten eine komplette Aussteuer mit Kleidung, Bett und Bettwäsche, Tischwäsche und Geschirr für den eigenen Bedarf mitbringen. Als Gegenleistung sorgte das Stift für ihren Unterhalt, wobei die Lebensverhältnisse im Hause sehr bescheiden waren.

       Zwei Monate nach der Vereinbarung mit den vier Schwestern wurden auch äuõerlich ordensähnliche Formen eingeführt. Nachdem ihnen Schneider mehrtägige Exerzitien gehalten hatte, nahm er sie im Rahmen einer Einkleidung am Pfingstdienstag, dem 26. Mai 1863, in die "Gemeinschaft der Marienschwestern" auf und übergab ihnen eine Schwesterntracht, die der schon 1858 eingeführten ähnlich war: einen blauen Tuchhabit und ein weißes Häubchen mit Tüllrüsche sowie zum Ausgehen einen schwarzen Hut und ein schwarzes Umlegetuch. Bei der zweiten Einkleidung im Jahre 1864 erhielten die Schwestern erstmals Ordensnamen.

       In seinen Ansprachen bei den Einkleidungen legte Schneider die am Ordensleben orientierte Spiritualität des St. Marienstifts dar. Er betonte die Armut der Marienschwestern, die den armen Dienstmädchen aus Liebe zu Gott ohne Aussicht auf weltlichen Lohn dienen sollten; sie mussten zu Entsagung, Opfer und schwerer Arbeit bereit sein und sich darauf gefasst machen, Kritik und Missdeutung für ihre Arbeit zu ernten.

       Schneider nahm den Schwestern auch Gelübde ab. Es handelte sich noch nicht um eine vom Bischof erlaubte und kirchenrechtlich verbindliche Profess, sondern um Privatgelübde, wie sie jeder Laie vor einem Priester ablegen konnte. Es war zur damaligen Zeit eine verbreitete Frömmigkeitspraxis, für persönliche Vorhaben ein entsprechendes Gelübde abzulegen, um die Verdienstlichkeit des guten Werkes vor Gott zu erhöhen. Die Schwestern verpflichteten sich, dem St. Marienstift auf ein Jahr oder auf drei Jahre zu dienen und alles, was sie in dieser Zeit erwarben, dem Stift zu überlassen. Sie beteten täglich das Marianische Offizium und den Rosenkranz. Nach Ablauf der Frist erneuerte jede Schwester die Gelübde für sich privat.

       Die hohen Anforderungen an die Mitarbeiterinnen und die kirchenrechtlich ungesicherte Stellung des St. Marienstifts bewirkten eine starke Fluktuation unter den Schwestern. Zu Schneiders Lebzeiten hatte das St. Marienstift insgesamt 24 Mitarbeiterinnen, Kandidatinnen und Schwestern, von den fünfzehn wieder ausschieden. Vierzehn Frauen wurden als Schwestern eingekleidet, aber nur neun blieben bis an ihr Lebensende in der späteren Kongregation.

       1864 ließ Schneider von den Schwestern eine Oberin wählen. Die Wahl fiel auf Schwester Mathilde Scholz, die seitdem der Gemeinschaft vorstand.

 

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