ARBEIT FÜR DIE DIENSTMÄDCHEN

       Bis Weihnachten 1854 war die erste Herberge des Vereins in einer Mietwohnung hinter der Kreuzkirche bezugsfertig. In zwei Zimmern standen sechs Betten zur Verfügung. Einige Damen sorgten für die Inneneinrichtung, eine bezahlte Mitarbeiterin führte die Aufsicht, und ein Arzt erklärte sich zur kostenlosen Behandlung der Kranken bereit. Im Januar 1855 zogen die ersten Mädchen ein.

       Nach einem Jahr hatte der St. Marienverein bereits 1.050 Mitglieder. 570 Dienstmädchen waren in Stellungen vermittelt und 153 vorübergehend zur Übernachtung in das Wohnheim aufgenommen worden, das die Zahl seiner Betten auf zwölf verdoppelt hatte. 80 kranke Dienstboten waren versorgt worden. Angesichts der großen Nachfrage nach Krankenbetreuung stiftete der Verein 1856 sechs Freibetten im städtischen Allerheiligenhospital, um seine Übernachtungsplätze für stellungslose Dienstmädchen frei zu halten.

       In den ersten drei Jahren zog der Verein mehrmals um. Da Mietwohnungen für seine Arbeit ungeeignet waren, bemühte er sich um den Kauf eines Hauses. Dabei kamen ihm die Grauen Schwestern von der heiligen Elisabeth aus Neisse indirekt zu Hilfe. Sie kauften 1857 das Haus Gräupnergasse 8 (später Josefstraße, heute ulica świętego Józefa) als Heim für bedürftige, alte Frauen und bezogen es im Herbst dieses Jahres. Die Besitzerin des Nachbarhauses Gräupnergasse 10, das der St. Marienverein schon lange zu kaufen wünschte, war nun auch zum Verkauf bereit. Schneider erwarb das Gebäude im Dezember 1857 und gab ihm den Namen St. Marienstift. Der St. Marienverein bezog es im folgenden Jahr und baute ein Waschhaus an, um eine Einnahmequelle für die Finanzierung seiner Arbeit zu haben.


Das 1858 eröffnete St. Marienstift in Breslau, Gräupnergasse 10 zeichnung von Schwester M. Carola Aulich

       Am 9. Dezember 1858 weihte der Breslauer Generalvikar Josef Neukirch das St. Marienstift ein. In seiner Ansprache schilderte er plastisch das Anliegen der Dienstbotenarbeit: "Lassen Sie mich Ihnen ein Familienbild entrollen, das sich im Leben oft wiederholt, welches aber die Glücklichen dieser Erde nicht kennen. Das Haus, in welches ich Sie bitte, im Geiste mit mir einzutreten, ist die ärmliche Hütte eines Dorfes. ... In dem engen, dumpfigen Stübchen ist eine zahlreiche Familie versammelt. Sie ist in großer Bewegung. ... Zwischen Vater und Mutter steht die älteste Tochter des Hauses, ein leichtes Bündel unter dem Arm, im Begriff, zum ersten Mal hinauszugehen in die Welt und am fernen Orte, im Dienst unter fremden Menschen ihr eignes Brot zu verdienen. Es ist zwar die älteste Tochter gegenüber ihren viel jüngeren Geschwistern, aber sie selbst ist so jugendlich, dass sie noch lange des Vaters wachsames Auge, der Mutter leitenden Hand bedürfte. ... Das Herz der armen Tochter spräche wohl gern: 'Ich bleibe', aber ein Blick auf ihre zahlreichen, noch unmündigen Geschwister, für welche die Eltern nicht mehr Brot genug haben, drängt den Wunsch ihres Herzens zurück. ... Endlich reißt sie sich los, und wie sie die Schwelle der väterlichen Hütte überschritten, steht sie da, allein, einsam, verlassen in der großen, fremden, weiten Welt! ...'Wie wird uns unser Kind wiederkehren?', so mag schon manche Mutter beim Abschied in ahnungsvollem Schmerz gefragt haben - und wie trostlos und jammervoll hat sich bei hunderten von Kindern, die das elterliche Haus verlassen mussten, um dienend ihr Brot zu suchen, ... diese Frage beantwortet! ... Bei den sittlichen Gefahren, die auf jedem Schritte lauern, bei den Versuchungen, die von innen und außen anstürmen, bei den verführerischen Beispielen, die überall ihre Fallen legen, ist niemand mehr dem furchtbarsten Kampfe ausgesetzt als der weibliche Dienstbote, zumal in einer großen Stadt. .... Getäuscht durch die Vorspielungen falscher Freunde oder Freundinnen, im entscheidenden Augenblick ohne Rat, ohne Mahnung, vielleicht durch den mächtigsten Feind des Menschen, durch die Not zum Äußersten getrieben, hilflos, verlassen, verzweifelnd bleibt ihm oft nur die grausame Wahl: entweder leiblich zu verderben oder sittlich unterzugehen. Dieser furchtbaren Not mit Erfolg vorzubeugen, diesen sittlichen Gefahren siegreich entgegenzutreten, ... gibt es nur ein Mittel: es ist die christliche Humanität, es ist jene edle, heilige Liebe, die solche arme, verlassene Dienstboten an ihr warmes Herz zieht, .... ihnen Vater und Mutter vertritt, ... wie ein sichtbarer Schutzengel ihre Wege ebnet, mit immer offenem Auge über ihnen wacht, mit immer treuer Hand sie leitet, mit Lehre, Warnung und Rat ihnen beisteht, und wenn sie brotlos und dienstlos und obdachlos nicht wissen, wohin sich wenden, ihnen eine sichere Zufluchtsstätte öffnet, wo sie vor der zweifachen Gefahr der leiblichen Not und des sittlichen Verderbens geborgen seien! Und dieses Mittel, hochverehrter Vorstand dieser Anstalt, hat Ihnen Gott in's Herz gegeben, und Sie haben es im frommen Vertrauen auf Ihn, der alles Edle und Gute segnet, angewendet".

       Das St. Marienstift ging auf alle Bedürfnisse der Dienstmädchen ein. Es bot nicht nur Unterkunft bei Arbeitslosigkeit und die Vermittlung seriöser Arbeitsstellen, sondern machte auch Freizeitangebote für die beschäftigten Dienstboten, sorgte für ihre religiöse Betreuung, bildete junge Mädchen in den erforderlichen Fertigkeiten für die Übernahme einer Anstellung aus und nahm kranke, arbeitsunfähige und alte Dienstboten auf.

       Diese Arbeiten wurden von den Mitarbeiterinnen im St. Marienstift, von den Vorstandsdamen und von Johannes Schneider geleistet. Die Vorstandsdamen kamen an bestimmten Tagen, um die organisatorischen Arbeiten zu erledigen, die mit der Aufnahme und Vermittlung der Dienstmädchen verbunden waren. Sie zogen bei den Herrschaften Erkundigungen über die Dienstmädchen ein und führten darüber Buch.


St. Matthias in Breslau (hier wirkte J. Schneider seit 1854)

       Johannes Schneider war täglich im Stift, kümmerte sich um die Kontakte mit den Behörden, die Werbung für Finanzen, die Auswahl und Anstellung der Mitarbeiterinnen, die Suche nach Wohnungen, den Kauf des Hauses sowie um die Auseinandersetzungen mit Mietern und Nachbarn. Er leistete diese Arbeit trotz eines Magenleidens, das ihm immer wieder zu schaffen machte, und trotz der Arbeit in der 5.000-Seelen-Gemeinde St. Matthias, in der er hauptamtlich tätig war. Bei der Gründung des Vereins im Jahre 1854 war er dort Kuratus und wurde im Laufe des Jahres Pfarradministrator, da der Pfarrer in den Ruhestand trat. 1861 übernahm jedoch ein anderer Priester die Leitung der Gemeinde, und Schneider wurde wieder Kuratus. Erst am 11. November 1869 wurde er schließlich zum Pfarrer von St. Matthias ernannt.


Altarkreuz in St. Matthias

       Seit 1858 bemühte sich Schneider mit Unterstützung des Fürstbischofs um die Verleihung der Korporationsrechte, die den Verein zu einer juristischen Person machten und ihn unter anderem befähigten, Erbschaften anzunehmen. Die Korporationsrechte wurden in Preußen jedoch nicht einem kirchlichen Verein, sondern nur einem neutralen Rechtsträger verliehen. Daher wurde als Rechtsträger für das St. Marienstift die "Marienstiftung" ins Leben gerufen. Mehrfach lehnten jedoch die staatlichen Stellen die Anträge auf ihre Anerkennung ab. Erst als Anfang der Sechzigerjahre das evangelische Marfha-Stift für Dienstboten entstand und rasch die Korporationsrechte erhielt, gestand man sie auch der katholischen Marienstiftung zu. Der preußische König Wilhelm l. verlieh sie am 9. August 1862, die Urkunde wurde jedoch erst ein knappes Jahr später, im Mai 1863, zugestellt.

       Zu diesem Zeitpunkt gehörten dem St. Marienverein mit knapp 1.200 Dienstmädchen etwa zwanzig Prozent der in Breslau beschäftigten Hausangestellten an. Finanziell lebte der Verein von den Beiträgen der Mitglieder, Spenden und von Sammlungen, die den Schwestern seit 1863 von der Behörde gestattet wurden. 1870 war das St. Marienstift, dessen Gebäude mit großen Schulden erworben worden war, dank einer größeren Zuwendung schuldenfrei.

       Durch seine erfolgreiche Arbeit wurde der St. Marienverein über Breslau hinaus bekannt. Ähnliche Initiativen in Wien, München und Posen (Poznan) nahmen Kontakt mit Schneider auf und ließen sich beraten.

 

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